Jim Sinclair: Trauert nicht um uns
Von Jim Sinclair
[ Dieser Artikel wurde vom Autism network
International newsletter - Unsere Stimme (our voice) 1993 (Ausgabe 3, Nr. 3)
veröffentlicht. Es ist eine schriftliche Fassung eines Vortrages, den Jim
Sinclair 1993 auf einer Internationalen Autismuskonferenz in Toronto 1993 gab
und ist speziell an die Eltern von autistischen Kindern gerichtet. ]
Von Eltern wird oft berichtet, daß, als sie erfuhren, ihr Kind sei
autistisch behindert, es das traumatischste Erlebnis war, das ihnen jemals
widerfahren ist. Nichtautistische Menschen sehen Autismus als eine große
Tragödie an, und Elternerleben durch alle Lebensphasen des Kindes und der
Familien hindurch bestehen fortwährend aus Enttäuschungen und Kummer.
Aber dieser Kummer stammt an sich nicht vom Autismus des Kindes. Es ist ein
Kummer über den Verlust des anormalen Kindes, auf das die Eltern gehofft
und das sie erwartet haben. Elterliche Erwartungen und Ziele und das
Auseinanderfallen dessen, was die Eltern vom Kind in einem bestimmten Alter
erwarten und wie der Entwicklungsstand des eigenen Kindes tatsächlich ist,
erursachen mehr Streß und Qual als die vielschichtigen Anforderungen des
alltäglichen Lebens mit einem autistischen Menschen. Ein gewisses
Maß an Kummer ist zu erwarten, wenn Eltern sich auf die Tatsache
einstellen müssen, daß sich ein Ereignis und eine Beziehung, auf die
sie sich gefreut haben nicht erfüllt. Aber dieser Kummer aus der
Vorstellung von einem normalen Kind ist eine Sache; eine ganz andere Sache ist
die Wahrnehmung eines Kindes, das sie in Wirklichkeit bekommen haben: das
autistische Kind, das Unterstützung von erwachsenen Betreuern braucht und
das bedeutungsvolle Beziehungen durch diese Erwachsenen aufbauen kann, wenn sie
ihm die Möglichkeit dazu gegeben. Die ständige Fixierung auf den
Autismus des Kindes ist eine Quelle des Kummers, der für beide
schädigend ist, und zwar sowohl für die Eltern als auch das Kind. Es
verhindert die Entwicklung einer annehmenden und echten Beziehung zwischen
beiden. Um ihrer selbst und des Kindes Willen empfehle ich Eltern dringend,
ihre Wahrnehmung darüber, was Autismus ist, grundlegend zu ändern.
Ich lade Sie ein zu einem Blick auf unseren Autismus und Ihren Kummer von
unserer Perspektive aus.
Autismus ist kein
Anhängsel
Autismus ist nicht etwas, was eine Person hat, oder
eine Hülle, in der eine Person gefangen ist. Es gibt kein anormales Kind,
das sich hinter dem Autismus verbirgt. Autismus ist eine Form des Seins. Er ist
tiefgreifend; er färbt jede Erfahrung, jede Empfindung, jede Wahrnehmung,
jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Begegnung, jeden Aspekt der
Existenz. Es ist nicht möglich den Autismus von der Person zu trennen, und
wenn es möglich wäre, wäre die Person, die übrig bliebe,
nicht dieselbe Person, die sie vorher war. Das ist wichtig - nehmen Sie sich
einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken: Autismus ist eine Art des
Seins. Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen.
Deshalb, wenn Eltern sagen:
Ich wünschte, meine Kind
hätte keinen Autismus, sagen sie in Wirklichkeit: ich wünschte,
das autistische Kind, das ich habe, würde nicht existieren und ich
hätte stattdessen ein anderes (nicht- autistisches) Kind.
Lesen
Sie bitte das noch einmal. Denn das hören wir nämlich, wenn ihr euch
über unseren Autismus beklagt. Das hören wir, wenn ihr um Heilung
betet. Das wissen wir, wenn ihr von euren liebsten Hoffnungen und Träume
für uns erzählt: daß es euer größter Wunsch ist,
daß wir eines Tages aufhören zu existieren und Fremde, die ihr
lieben könnt, hinter unseren Gesichtern auftauchen.
Autismus
ist keine undurchdringbare Wand
Sie versuchen, eine Beziehung zu
Ihrem autistischen Kind herzustellen und es antwortet nicht. Es scheint Sie
nicht zu sehen; Sie können es nicht erreichen; es gibt keine Weg,
durchzukommen. Damit ist am schwierigsten umzugehen, nicht wahr? Ihre Annahme
entspricht aber nicht der Wahrheit. Schauen Sie sich die Sache noch einmal
an: Sie versuchen als Eltern eine Beziehung zum Kind herzustellen und benutzen
dabei Ihre Vorstellung von einem normalen Kind, Ihre eigenen Gefühle
über Elternschaft, Ihre eigenen Erfahrungen und Einsichten über
Beziehungen. Und das Kind, so wie Sie es wahrnehmen, antwortet überhaupt
nicht in einer Weise im Sinne Ihres Systems. Dies bedeutet nicht, daß das
Kind gänzlich unfähig ist, Beziehungen einzugehen. Es bedeutet
nur, daß Sie ein gemeinsames System unterstellen, ein gegenseitiges
Verstehen von Signalen und Bedeutungen, was das Kind aber, in Wirklichkeit
nicht teilt. Es ist, als ob Sie versuchen, sich eindringlich mit jemandem zu
unterhalten, der Ihre Sprache nicht versteht. Natürlich wird die Person
nicht verstehen, worüber Sie reden, wird nicht in der Art antworten, wie
Sie es erwarten und wird die ganze Unterhaltung wirr und unangenehm empfinden.
Es ist mühevoller mit jemandem zu kommunizieren, dessen Muttersprache eine
andere ist als Ihre. Autismus geht tiefer als Sprache und Kultur;
autistische Menschen sind Fremde in jeder Gesellschaft. Sie müssen
beginnen, Ihre Auffassung von übereinstimmenden Bedeutungen aufzugeben.
Sie müssen lernen, sich auf eine ursprünglichere Ebene zu begeben als
bisher; Sie müssen immer wieder übersetzen und überprüfen,
ob Ihre Übersetzungen auch verstanden worden sind. Sie müssen sich
von dem Gefühl der Sicherheit verabschieden, das vom Handeln im vertrauten
familiären Umfeld herrührt, ebenso von der Meinung, daß Sie die
Zügel in der Hand halten. Statt dessen erlauben Sie Ihrem Kind, Ihnen
etwas von seiner Sprache beizubringen und Sie ein wenig in seine Welt zu
führen. Dennoch wird das Ergebnis, wenn Sie erfolgreich sind, kein
normales Eltern-Kind-Verhältnis sein. Ihr autistisches Kind lernt
vielleicht zu sprechen, wird vielleicht Regelklassen in der Schule besuchen,
möglicherweise studieren, ein Auto fahren, unabhängig leben, eine
Karriere machen, aber es wird niemals eine Beziehung zu Ihnen haben wie andere
Kinder zu ihren Eltern. Oder Ihr autistisches Kind wird niemals sprechen,
es wird vielleicht von einem geschlossenen Erziehungsprogramm zu einem
geschätzten Aktivitätsprogramm oder einer gestützten
Heimerziehung wechseln, es wird vielleicht sein ganzes Leben lang
Vollzeitbetreuung brauchen - und dabei nicht unerreichbar für Sie sein.
Unsere Art Beziehungen herzustellen zu ist einfach anders. Wenn Sie Dinge
erzwingen wollen, die Sie als normale Erwartungen ansehen, dann werden Sie
Frustrationen, Enttäuschungen und Groll, womöglich Haß und Wut
erleben. Gehen Sie die Sache mit Respekt und ohne vorgefaßte
Einstellungen an; seinen Sie offen für die neuen Dinge, die zu lernen
sind, und Sie werden eine neue Welt entdecken, die Sie sich niemals vorgestellt
haben. Ja, es erfordert mehr Arbeit als eine Beziehung zu einem normalen
Menschen . Aber es ist möglich, vorausgesetzt, die nicht autistischen
Menschen sind nicht noch stärker beschränkt in ihrer Fähigkeit,
Beziehungen herzustellen als wir es sind. Wir tun unser ganzes Leben lang
nichts anderes als Beziehungen herzustellen. Jeder von uns, der lernt, mit Euch
zu sprechen: jeder von uns, der lernt, in Eurer Gesellschaft zu funktionieren:
jeder von, der die Hand ausstreckt, um eine Verbindung zu Euch herzustellen,
bewegt sich auf fremdem Gebiet und übt die Annäherung an Menschen aus
einer anderen Welt. Wir verbringen unser ganzes Leben damit. Und dann
erzählt Ihr uns, daß wir beziehungsunfähig sind!
Autismus ist nicht der Tod
Zugestanden, Autismus ist
nicht das, was die meisten Eltern erwarteten, als sie sich auf die Ankunft
eines Kindes freuten. Was sie erwarteten, war ein Kind, das wie sie sein und
ihrer Welt angehören würde. Sie stellten sich auf eine Beziehung ein,
die nicht eine Ausbildung im Umgang mit einem fremden Wesen erfordert.
Selbst, in Fällen, wo das Kind andere Behinderungen als die des
Autismus hat, können Eltern erwarten, normale Beziehungen wie bei normalen
Kindern herstellen zu können. In den meisten Fällen ist es
möglich, mit dem Kind die Bindung, auf die sich die Eltern gefreut haben,
einzugehen, auch wenn wegen der verschiedenen Behinderungen
Einschränkungen hingenommen werden müssen. Dies ist aber nicht
möglich bei einem autistischen Kind. Viel von dem Kummer, den Eltern
von autistischen Kindern erleben, rührt daher, daß die erwartete
Beziehung zu einem erwarteten normalen Kind nicht möglich ist. Der Kummer
ist sehr real und er muß erforscht und durchgearbeitet werden, damit die
Betroffenen wieder mit ihrem Leben fortfahren können - aber all dies hat
nichts mit Autismus zu tun. Vielmehr geht es darum, daß Sie etwas
erwartet haben, was außerordentlich wichtig für Sie war und auf das
Sie sich ganz aufgeregt gefreut haben. Vielleicht haben Sie auch für eine
gewisse Zeit gedacht, daß es Ihnen geschenkt wurde, aber allmählich
oder auch plötzlich, haben sie erkannt, daß Ihre Erwartungen sich
nicht erfüllt haben und daß sie sich nie erfüllen werden.
Es spielt keine Rolle wie viele andere gesunde Kinder Sie haben, nichts
wird die Tatsache ändern, daß dieses Mal das Kind, das Sie erwartet,
auf das Sie gehofft und von dem Sie geträumt haben, nicht gekommen ist. Es
ist dieselbe Erfahrung, wie wenn ein Kind totgeboren wird oder wenn die Eltern
ihr Kind kurz nach der Geburt in den Armen halten können, nur um es dann
als Säugling sterben zu sehen.
Es geht nicht um den Autismus, es
geht um zerstörte Erwartungen.
Mein Vorschlag wäre, diese
Fragen nicht in Organisationen anzusprechen, die sich mit Autismus befassen,
sondern in Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen für trauernde
Eltern. In dieser Umgebung lernen Eltern sich mit ihrem Verlust
auszusöhnen - nicht ihn zu vergessen - ihn aber in der Vergangenheit zu
lassen, damit der Kummer sie nicht immerzu in ihrem Alltag überfällt.
Sie lernen zu akzeptieren, daß ihr Kind für immer gegangen ist
und daß es nie mehr zurück kommt. Aber noch wichtiger ist, sie
lernen, nicht die überlebenden Kinder zu Leidtragenden des Kummers ihres
Verlustes werden zu lassen. Dies ist von besonderer Bedeutung für
diejenigen verbleibenden Kinder, die gerade zu der Zeit geboren werden, in der
das Kind, um das man trauert, gestorben ist. Sie haben kein Kind an den
Autismus verloren. Sie haben ein Kind verloren, weil das Kind, das Sie erwartet
haben, gar nicht geboren wurde. Daran ist aber nicht das autistische Kind
das geboren wurde Schuld, daher sollten wir dafür nicht die Last tragen.
Wir brauchen keine Familien, deren Sicht von irgendwelchen Vorstellungen von
Kindern, die es nie gab, verschleiert ist. Trauert, wenn es sein muß,
über Eure eigenen verlorenen Träume. Aber trauert nicht um uns. Wir
sind lebendig. Wir sind real. Und wir sind hier und warten auf Euch. Ich stelle
mir Autismus-Selbsthilfegruppen folgendermaßen vor: sie sollten nicht um
das trauern, was niemals war, sondern das erkunden was ist. Wir brauchen Euch.
Wir brauchen Eure Hilfe und Euer Verständnis. Eurer Welt mangelt es an
Offenheit für uns, und wir schaffen es nicht ohne Eure starke
Unterstützung. Die Tragödie des Autismus liegt nicht begründet
in dem was wir sind, sondern in dem, was mit uns passiert. Seien Sie über
diesen Umstand betrübt, wenn Sie schon über etwas traurig sein
wollen. Besser wäre es jedoch, wenn Sie statt traurig ärgerlich
wären - und dann etwas unternehmen würden. Das Tragische ist
nicht, daß wir hier sind, sondern daß Eure Welt keinen Platz
für uns hat. Wie kann es anders sein, wenn unsere eigenen Eltern sich
immer noch grämen, daß sie uns auf die Welt gebracht haben? Schauen
Sie sich hin und wieder Ihr autistisches Kind an und nehmen Sie sich einen
Moment Zeit, um sich klar zu machen, was ihr Kind nicht ist. Denken Sie
für sich: Dies ist nicht das Kind, auf das ich gewartet und für das
ich geplant habe. Dies ist nicht das Kind, auf das ich all die Monate
während meiner Schwangerschaft und all die Stunden bei der Entbindung
gewartet habe. Dies ist nicht das Kind, für das ich all meine Pläne
gemacht habe und mit dem ich alle Erfahrungen teilen wollte. Dieses Kind ist
nicht gekommen. Dies ist nicht das Kind. Dann gehen Sie durch all die
Trauer, die für Sie notwendig ist, ohne Ihr autistisches Kind damit zu
behelligen und lernen Sie, loszulassen. Nachdem Sie angefangen haben
loszulassen kommen Sie zurück und betrachten Sie wieder Ihr autistisches
Kind und sagen Sie sich selbst: Dies ist nicht mein Kind, das ich erwartet und
für das ich geplant habe. Es ist ein kleiner Fremdling, der durch Zufall
in mein Leben gekommen ist. Ich weiß nicht, wer dieses Kind ist und was
aus ihm werden wird. Aber ich weiß, es ist ein Kind, das in einer ihm
fremden Welt gelandet ist , dessen Eltern, die sich um ihn kümmern, nicht
von seiner Art sind. Es braucht jemanden, der sich um es kümmert, ihm
etwas beibringt, es versteht und seine Rechte wahrnimmt. Und weil dieses Kind
zufällig in meinem Leben gelandet ist, kümmere ich mich darum, wenn
ich es behalten will. Wenn Sie dies alles aufregend finden, dann sollten wir
diese Aufgabe gemeinsam anpacken und unsere Kraft, Entschlossenheit, Hoffnung
und Freude mit einbringen. Es wartet ein Leben voller Abenteuer auf Sie.
Übersetzung: Valentina Schmidt, Dr. Wolfgang Heyder
Anmerkung: Jim Sinclair hat einer Veröffentlichung in
Medien von Elternvereinen unter der Bedingung zugestimmt, als die Quelle
angegeben wird, was wir in der Kopfzeile getan haben. Ich erachte diesen
Vortrag als grundlegend für Eltern, die mit der Tatsache konfrontiert
werden ein autistisch behindertes Kind bekommen zu haben. Aus der Sicht eines
selbst autistisch Betroffenen wird ein positiver Zugang aufgezeigt, der durch
Akzeptanz und Liebe geprägt ist. (wh) |
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