"Ich bin ein Irrer mit Verstand"
Der 25jährige Birger Sellin ist stummer Autist. Und Schriftsteller. Ursula Eichenberger hat den Berliner besucht. Bericht einer aussergewöhnlichen Begegnung.Das Wunder geschah vor sieben Jahren. Ein scheinbar Verstummter erwacht aus siebzehnjähriger Agonie. Seit seinem zweiten Lebensjahr von der Aussenwelt abgekapselt dahinvegetierend, kommuniziert er nun per Computer:quatsch ist ich sei ein irrer ohne verstand / ich bin ein irrer mit verstand was noch schlimmer ist / aus den tiefen einer komischen inneren eiternden zuständigen kommandozentrale erhalte ich essigsauer irrsinnsbefehleEiner, dessen Funktionsniveau bis anhin als gleich null galt, erklärt ohne Punkt und Komma in ureigenster Sprache:du hast keine ahnung von einem leben in absoluter isolation / es ist schlimmer so als eine gefangenschaft oder sogenannte isolierhaft / ich ertrinke in einsamkeit
In Zeitlupentempo entstehen Sätze. Kaum einer wird nicht durch einen Zwischenfall unterbrochen, der wie mahnend daran erinnert, dass es sich um einen Kranken handelt.Ein Schrei, noch einer, dann keuchendes Atmen, das in Hyperventilieren übergeht und von heftigem Schnauben durchzogen ist. Zwischendurch schlägt der rechte Handballen mit Wucht von unten gegen die Oberzähne. Wieder und wieder.Hilflosigkeit. Panik. Wie soll man dem heute 25jährigen Birger Sellin begegnen, der aus unerklärlichen Gründen plötzlich die Beherrschung zu verlieren scheint? Ich schlucke leer. Ausser uns beiden ist niemand im Raum. Möglichst natürlich, scheinbar ins Leere, beginne ich zu erzählen. Der Versuch, seine Augen für einen Moment einzufangen, misslingt. Hört er mich überhaupt?Plötzlich nähert er sich, nimmt meine vor Aufregung feuchte Hand in seine grosse, legt sie auf sein Knie und bedeutet mir zuzudrücken. Gleichzeitig stubst er mit seiner Nase meine Halsbeuge, legt seinen Kopf vorsichtig an den meinen. Für einen Augenblick scheint Ruhe eingekehrt. Später erklärt seine Mutter, dass Birger Körperkontakt sucht, um sein Selbstvertrauen zu stärken, "wie wenn man einen Stecker in die Steckdose steckt und plötzlich wieder Strom fliesst".Von einer Sekunde auf die andere ist der Fluss wieder unterbrochen. Ruckartig bäumt sich sein Körper auf. Zweimal durchquert er schnaubend den Raum, wirft sich aufs Sofa. Der Oberkörper pendelt sich in ein Vor- und Rückwärtswippen ein. Langsam wird der Atem ruhiger. In der Hand hält er einige Murmeln, lässt sie durch seine Finger aufs Sofa fallen. So konzentriert, als hinge sein Leben davon ab. Was in solchen Momenten in ihm vorgeht, ist nicht nachvollziehbar. Dass es Birger selbst im Moment des Geschehens weiss, ist unwahrscheinlich. Sicher aber ist, dass er es im Nachhinein realisiert:ich will gerne helfen unsere unsinnige unterwelt den erleuchteten oberweltlern persönlich zu erklärenUnd das tut er klar und analytisch:
angst ist etwas was sich nicht so leicht fassen lässt / es ist eine störung leider so ausserordentlicher wuchtigkeit dass ich es nicht so einfach beschreiben kann / einen ausdruck geben meine autistischen verhaltensweisen wie zum beispiel das schreien das beissen und alle anderen unsinnigkeitenDie Katastrophe bricht über den 1973 in Berlin geborenen Birger im Alter von knapp zwei Jahren herein. Innerhalb weniger Wochen verliert er seine Sprache, vermeidet jeden Blick- und Körperkontakt, scheint nichts mehr richtig wahrzunehmen. Hin und wieder schreit er, ohne dass erkennbar ist weshalb. Er zieht sich total in sich zurück, implodiert quasi.Seine Eltern, die Psychologin Annemarie und der Jurist Dankward Sellin, bringen ihn zur Untersuchung in die Berliner Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Diagnose schlägt ein wie ein Blitz: geistige Rückbildung infolge einer Gehirnzellenentzündung. Im Alter von vier Jahren fällt während einer von vielen weiteren Untersuchungen zum ersten Mal der Begriff "Autismus". Den Eltern wird klar, dass ihr Leben künftig anders verlaufen wird, als das anderer Familien. "Wir konnten niemanden mehr einladen, keine Bekanntschaften pflegen, nicht verreisen", sagt Mutter Sellin, "es ging nur noch darum, den jeweiligen Tag zu überstehen."Während der nächsten dreizehn Jahre vegetiert Birger vor sich hin und scheint auf dem Entwicklungsniveau eines Kleinkindes zu verharren. Neben dem Durchforsten der elterlichen Bibliothek kristallisiert sich eine weitere Lieblingsbeschäftigung heraus: Wie hypnotisiert spielt Birger mit Glasmurmeln.perlen (so nennt Birger seine Murmeln) sind fast so wichtig wie ein wesentliches richtiges wertvolles arbeitsmittel / damit arbeite ich an persönlichen theorien / rieseln (mit den Murmeln) ist eine stereotypie die richtig in einen rausch versetzt / ich wiederhole erst sichtbar was unsichtbar einsamkeit anrichtetObwohl seine Sammlung über hundert Murmeln zählt, wird Birger unruhig, wenn auch nur eine fehlt. Das erkennt er mit einem Blick. Seine besondere Liebe zu den Glasperlen ist Anlass für die einzigen Worte, die er nach seinem zweiten Lebensjahr je nochmals spricht. Als ihm sein Vater eine Murmel wegnimmt, fordert Birger, damals achtjährig: "Gib mir die Kugel wieder!" Bis heute hat Birger nie wieder ein Wort gesprochen:weil reden zu wertvoll ist dass ich es nicht wert bin reden zu können / tatsache ist ich kann nie reden denn ich bin zu schlecht in der inneren wirklichkeit und tatsache ist ich kann es nicht lernen weil ich einfach unsinn reden würdeZwar kann Birger bis heute nicht reden, aber er kann schreiben. Aus seinen Aufzeichnungen auf dem Computer entstehen zwei, wie er selbst beschreibt, irre akademisch denkdichte bücher, beide Bestseller und in viele Sprachen übersetzt.1990 wird Birger erstmals mit der Facilitated-Communication-Method (FC) - gestützte Kommunikation - konfrontiert, einem Verfahren, das Autisten die Kontaktaufnahme erleichtert: ich habe gemerkt dass in uns die fähigkeit zu sprechen ist aber irgendwo eine blockierung sein muss / aus diesem grund ist es auch nicht möglich richtig zu handeln oder allein zu schreiben / eine entspannte psychische situation kann mir es ermöglichen viel mehr zu leisten als in anspannung und angstDas Schreibenkönnen öffnet Birger auch die Türe zum Schulunterricht. Seit 1993 wird er privat in der FC-Methode unterrichtet mit dem Ziel, das Abitur zu machen. Die Psychologin Gisela Fischbeck ist Birgers Hauptlehrerin und unterrichtet ihn in Deutsch, Englisch, Französisch, Latein und Geschichte. Konnte Birger früher lediglich von der Haustüre zum Briefkasten alleine gehen, schafft er heute den zehnminütigen Weg vom Elternhaus zu seiner Lehrerin ohne Hilfe. Täglich ist Fischbeck von dem unterschiedlichen Innen und Aussen ihres Schülers beeindruckt. Oft kommt ihr der Vers in den Sinn: "Seht ihr den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön."Lesen kann Birger seit seinem fünften Lebensjahr. Nur wusste niemand davon. Das damals scheinbar sinnlose Durchblättern von Büchern entpuppte sich als sinnvolle Beschäftigung. Birger erfasst den Inhalt einer Seite in nur wenigen Sekunden, liest quasi diagonal.gerade weil ich unfähig war zu reden fiel mir das lesen so leicht / sogenannte schwierige daten kann ich auf einen blick erlernen / ein ausserordentliches talent / aber absolut sinnlos und nutzlos dieses ohne sinn und verstand / birger tut alles wissen mitten in den haufen von chaotischem gelesenem dichterunsinn und dichtet sich weiteren unsinn daraus so dass quatschgebirger in potenz entstehtBirgers Sinneseindrücke sind unermesslich viel stärker: Er hört besser, sieht genauer und riecht intensiver. Gleichzeitig verfügt er aber kaum über Kanäle, um das entstandene Chaos nach aussen hin abzuleiten.einmal erstarrte ich versehentlich vor schreck weil ich triefende wassertropfen für lebewesen hielt / teilweise ist es noch heute so dass ich solche sinnestäuschungen habeWährend mich Birgers Aufzeichnungen in eine unbekannte Welt entführen, holt mich das Schlagen auf die Zähne wieder in die Realität zurück. Diesmal will der Anfall nicht enden. Obwohl es erst elf Uhr ist, beschliesst Mutter Sellin, das Mittagessen vorzubereiten. Oft helfe das Birger, sich wieder zurechtzufinden, sagt sie. Er orientiert sich an wiederkehrenden Riten, weil er kein Zeitempfinden hat und das Chaos in ihm oft unerträglich wird.eine angst unter der ich am meisten leide ist die angst wie ich einen tag überleben kann / so aus sicherer sicht eines auserwählten scheint alles eisern und so etwas lächerlich / ich wiederum sichere die eisigen tageszeiten ab indem ich einen sogenannten eisernen wichtigen serienabfragekatalog erstelle / ein soausderangst auslaufendes idiotensystemNach wenigen Augenblicken ist Birgers Teller, gehäuft mit Makkaroni und Schinken, leer. Sein 14jähriger Bruder Jonas lächelt verlegen. Auch wenn die "Verschleisserscheinungen" gross sind, wie Mutter Annemarie zugibt, ist die Familie immer für Birger da. Das erfordert viel Rücksicht und Einfühlungsvermögen. Oft fragt sie sich, ob sie in Birgers Welt oder er in ihrer lebt. Birger beschäftigt der gleiche Gedanke:eines ist irre / insichsein ist ein toter zustand / ohnesichsein ist einsamkeit / weder das insichsein noch das ohnesichsein können lebenUnd doch ist klar, dass er vor allem eines möchte:ich sehne mich so ein normales erleben zu haben / eine persönliche willenserklärung gebe ich hiermit ab / also es ist aus autismus / ich erkläre meinen rücktritt