EINIGE ASPEKTE ZUM VERSTÄNDNIS UND ZUR ERKENNUNG DES ASPERGERSYNDROMS

Benannt ist das Aspergersyndrom nach dem Erstbeschreiber, dem österreichischen Arzt Hans Asperger. Es wird diagnostisch gesehen dem Autismusspektrum zugeordnet. Meines Erachtens bildet es genau den übergang von ADD (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) zum Autismusspektrum und kann mit einzelnen Symptomen mehr in das eine oder mehr in das andere Spektrum hineinragen.

Meist erhalten Kinder mit Aspergersyndrom (AS), wenn überhaupt, erst recht spät, oft erst nach dem 4. Lebensjahr oder im Schulkindalter, die angemessene Diagnose. In Deutschland bleiben die meisten davon unerkannt und fristen ihr Schülerdasein auf Lernbehinderten- oder Verhaltensgestörtenschulen.

Kinder mit AS haben ganz spezifische Voraussetzungen bezüglich der Informationsverarbeitung. Umweltinformationen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so selektiert und weitergeleitet, daß sie zu einem strukturierten Abbild der Umgebung und einer komplexen und harmonischen Körpereigenwahrnehmung führen. Offensichtlich können die Informationen über das zentrale Nervensystem nicht zulänglich synthetisiert und reflektiert werden. Mangels Erklärung für die beschriebene Kondition, ordnete man früher das Aspergersyndrom dem psychiatrischen Formenkreis zu, obwohl schon HANS ASPERGER verlauten ließ, die Persönlichkeit betroffener Menschen sei nicht im Zentrum gestört.

Die Ursachen der AS-Kondition sind bis heute noch nicht genau bekannt. Schon in den vierziger Jahren schließt ASPERGER aus seinen Studien der Familiengeschichten, daß es sich um eine genetische Disposition handeln müsse. Bei Hirnuntersuchungen wurden keine größeren strukturellen Schädigungen gefunden, wohl aber in Einzelfällen leichtere Vergrößerungen oder Verkleinerungen von Hirnwindungen und Schädigungen des linken Temporallappens. OZBAYRAK berichtet von einer linken parieto-occipitalen Hypoperfusion (Scheitel-Hinterhauptslappen-Minderdurchblutung) im Rahmen einer SPECT (single photon emission tomography).

Einzelberichte lassen Störungen im Nahrungsstoffwechsel z.B. beim Abbau von Kasein, Gluten, Fettsäuren vermuten, da pathologische Stoffwechselmetaboliten im Urin gefunden wurden. Außerdem gibt es Hinweise auf eine Dysfunktion des Mineralstoffwechsels (Zink, Magnesium, Sulfat),(SHATTOCK). Vereinzelt werden auch Allergien und Autoimmunreaktionen erwähnt. Vermutungen über Störungen des Hirnstoffwechsels (Rolle der Neurotransmitter) spielen bisher eine hypothetische Rolle.
Literatur über Studien, die erwähnte Einzelangaben untermauern, habe ich bisher noch nicht ausfindig machen können.

Auf jeden Fall unterstützt die neuere Forschung die Aussage all derer, die behaupten, AS sei eine biologische Disposition und keine psychische (im Sinne. des KJHG "seelische") Erkrankung.

Wenn auch oberflächlich betrachtet Emotionen, Verhalten, Bewegungsart sowie Sprech- und Sprachweise von Menschen mit AS ungewöhnlich erscheinen, so sind sie doch nur die logische Konsequenz aus deren Entwicklungskonditionen. Ein Kind, das seine Umwelt im wahrsten Sinne des Wortes nicht begreifen (erfassen) kann, das über den Vorgang des Anfassens und Fühlens keine verwertbare Information erhält, das Sinnesreize nicht sinnvoll weiterleitet, muß für seine Umwelt unsinnig reagieren. So gesehen sind die eigentümlichen Ordnungszeremonien und bizarren Muster im Spiel-, Sprach- und Explorationsverhalten lediglich kompensatorischer Natur. Ebenso dienen meines Erachtens die motorischen und Bewegunsstereotypien, die AS-Kinder aufweisen, der Reizselektion und der Entwicklung eines Körperschemas.

Da die Zuordnung zu einer Kategorie zunächst aufgrund von äußerlich Sichtbarem vollzogen wird, im folgenden als Erkennungskriterien für AS die Diagnosekriterien nach GILLBERG (Nach: Christopher Gillberg and Mary Coleman, The Biology of the Autistic Syndromes, 2nd Edition, London1992; übersetzt von Bärbel Buschlinger-Wienicke):

»DIAGNOSEKRITERIEN:

1. SCHWERE BEEINTRäCHTIGUNG DER REZIPROKEN (GEGENSEITIGEN) SOZIALEN INTERAKTION
(mindestens zwei der folgenden)

a) Unfähigkeit mit Gleichaltrigen zu interagieren
b) Mangel an Interesse mit Gleichaltrigen zu interagieren
c) mangelndes Erkennen sozialer Signale
d) sozial und emotional unangepaßtes Verhalten

2. ALLES ABSORBIERENDES EINSEITIGES INTERESSE
(mindestens eins der folgenden)

a) Ausschluß anderer Aktivitäten
b) verweilen in Wiederholungen
c) mehr auswendig gelernt als sinnerfassend

3. AUFZWINGEN VON ROUTINEN UND INTERESSEN
(mindestens eins der folgenden)

a) sich selbst, im Hinblick auf das Leben
b) anderen gegenüber

4. SPRECH- UND SPRACHPROBLEME
(mindestens drei der folgenden)

a) verzögerte Entwicklung
b) oberflächlich perfekte, ausdrucksvolle Sprache
c) formale, pedantische Sprache
d) merkwürdig versmäßig, Stimmeigenheiten
e) Beeinträchtigung des Verständnisses incl. der Fehlinterpretation geäußerter oder angedeuteter Absichten

5. NONVERBALE KOMMUNIKATIONSPROBLEME
(mindestens eins der folgenden)

a) eingeschränkter Gebrauch von Gesten
b) tollpatschige, unbeholfene Körpersprache
c) limitierter Gesichtsausdruck
d) unangemessenes Ausdrucksverhalten
e) eigentümlich starrer Blick

6. MOTORISCHE UNGESCHICKLICHKEIT:

Geringe Ausprägung der Kontrolle über das Nervensystem

Zur Diagnose müssen alle 6 Kriterien herangezogen werden.«

Die Kriterien von DSM-IV enthalten zusätzlich motorische Stereotypien (wie z.B. Hand- oder Fingerwedeln oder Ganzkörperbewegungen) oder verweilende Beschäftigung mit Objektteilen. Meines Erachtens treffen diese Items nur für AS-Kinder zu, die von der Symptomatik her weit in das Autismusspektrum hineinreichen.

© Bärbel Buschlinger-Wienicke, Oktober 97